Lehrjahre...

...Doch zum ersten Mal meint es das Schicksal gut mit Kneipp. In einer „urplötzlichen Eingebung“, wie er selbst berichtete, suchte er 1842 im 15 km entfernten Grönenbach Kaplan Merkle auf, einen weitläufigen Verwandten seiner Familie. Dieser Weg nach Grönenbach bedeutet die Wende in seinem Leben. Kaplan Merkle erkannte sehr schnell die Begabung Kneipps und auch seinen unumstößlichen Willen, Geistlicher zu werden.

Beim Ortsvorsteher von Grönenbach fand Kneipp Kost und Logis. Dafür mußte er hart in der Landwirtschaft arbeiten, anschließend büffelte er mit Dr. Merkle lateinische Vokabeln. Die Hoffnung, das angestrebte Ziel zu erreichen und sein Glaube gaben ihm die Kraft, täglich 16 Stunden zu arbeiten und zu lernen.

Eineinhalb Jahre blieb Sebastian Kneipp in Grönenbach, dann folgte er seinem Mentor und Förderer nach Augsburg, kurze Zeit später nach Dillingen, wo Dr. Merkle eine Berufung als Professor für Moraltheologie an die dortige philosophisch-theologische Hochschule erhielt. Zwar scheiterte sein erster Versuch, am Dillinger Gymnasium aufgenommen zu werden, im November 1844 klappte es. Sebastian Kneipp erhielt die Altersdispens und trat ins Gymnasium ein. Die meisten seiner Klassenkameraden überragte der kräftige Kneipp um Haupteslänge; außerdem war er fast doppelt so alt wie seine Mitschüler. Doch in seinem Lerneifer und seinem Fleiß war Kneipp Vorbild und schaffte das erste Schuljahr mit hervorragendem Erfolg.

Das Tor zum Ziel seiner Wünsche war damit weit geöffnet – da traf ihn erneut ein Schicksalsschlag, der seinem Leben um ein Haar ein Ende gesetzt hätte. 1846, Kneipp war im zweiten Jahr Schüler in Dillingen, schwand seine Gesundheit. Die Entbehrungen und Anstrengungen seiner Kindheits- und frühen Jugendjahre machten sich bemerkbar. Was im feuchten Keller begonnen hatte, wuchs jetzt zur drohenden Gefahr: er litt an Lungentuberkulose. Heftiger Bluthusten und starke Erschöpfung waren die Symptome; der betreuende Arzt sah für den Patienten Kneipp kaum Hoffnung. Sebastian Kneipp war zu schwach, um ständig am Unterricht teilzunehmen. Während des dritten Schuljahres fehlte er fast die Hälfte der Zeit. Er selbst führte die Krankheit auf die Umstellung seiner Lebensweise zurück. Das Sitzen über den Büchern in schlecht geheizten Zimmern, der fast völlige Mangel an Bewegung und die wenig vitaminreiche Nahrung machte Kneipp für seine Schwäche verantwortlich.

Trotz des erschreckenden Verfalls schaffte er nach nur vier Jahren Gymnasialzeit das Abitur mit der Note „Würdig“ und konnte zunächst am Dillinger Lyzeum, dann an der Münchener Universität das philosophisch-theologische Studium belegen. Das zweite Semester im Frühjahr 1849 in München brachte dann die völlige Verzweiflung und Apathie. Nur die Hälfte der Vorlesungen konnte er besuchen, mehr war wegen der nicht ausgeheilten Tuberkulose nicht möglich – und oft genug mußte er hungern. Kneipp war am Ende seiner Kräfte, er hoffe auf ein Wunder.

Und dies trat ein durch das Entdecken eines Büchleins in der Münchner Universitätsbibliothek: „Unterricht von Krafft und Würckung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen, besonders der Kranken bey dessen innerlichen und äußerlichen Gebrauche. Aus Vernunftgründen erläutert und durch die Erfahrung bestättigt von Johann Siegmund Hahn, Medicinae Doctor und Practicus in Schweidnitz.“ Dieses im Jahre 1743 erschienene Buch hatte es Kneipp sofort angetan und bezeichnete es als „Morgenstern in tiefster gesundheitlicher Not.“. Fühlte er sich auch an Beobachtungen aus seiner Hütezeit erinnert, als er seinerzeit feststellte, daß kranke Kühe immer wieder kaltes Wasser suchten, um sich Linderung zu verschaffen.

Im Herbst des gleichen Jahres kehrte Kneipp nach Dillingen zurück, um hier sein Theologiestudium fortzusetzen. Jetzt war die Zeit gekommen, die Theorien von Johann Siegmund Hahn in die Praxis umzusetzen. Für ihn galt es: Krankheit auf den Tod oder Genesung, es ging um seinen letzten und höchsten Einsatz. Diese Hoffnung muß ihm geblieben sein, will man Verständnis für die lebensgefährliche, entscheidende Tat des schwerkranken Studenten aufbringen, die wie Kurzschluß anmutet, in Wirklichkeit aber den unverrückbaren Grund für sein ganzes Lebens- und Erfolgsgebäude legte. Am 16. November lief er wie in Trance und mit keuchenden Lungen zur Donau, die sich in dieser Zeit schon mit einer leichten Eisdecke überzogen hatte, warf erhitzt, wie er war, die Kleider vom Leibe, tauchte bis an den Hals in das eiskalte Wasser, zählte bis drei, stieg wieder heraus, zog sich in höchster Eile an und rannte zurück in seine Studentenbude so schnell er konnte.

Das Ergebnis dieses mehr als mutigen Versuches am eigenen Körper war erstaunlich: Ein zunächst kaum registrierbares Wohlbefinden regte sich, als er sich zu Bett legte. Am nächsten Tag glaubte er sich im Ganzen frischer zu fühlen. Nach drei Tagen wiederholte er das Experiment. Und wieder empfand er die gleiche, stärkende Wirkung. Kneipp wurde immer zuversichtlicher und nahm zwei- bis dreimal in der Woche sein Bad von wenigen Sekunden Dauer in der eiskalten Donau. Ergänzend dazu verabreichte er sich in der Waschküche selbst Halbbäder und Güsse. Kneipp wurde immer zuversichtlicher, setzte die anormal scheinende Therapie fort und fühlte sich immer besser.

Eine unendliche Lust zu Lernen und zu Wirken ließ den Genesenden die nächsten Stationen seines Studiums wie im Fluge nehmen – und auch das Glück schien im hold. Im Jahre 1949 erhielt er einen Freiplatz im theologischen Seminar Georgianum München, der ihn für den Rest des Studiums von finanziellen Sorgen befreite. Auch hier setzt Kneipp seine Wasseranwendungen fort – heimlich, denn bestimmt hätte man solche Radikal-Kuren als lebensgefährlich angesehen und verboten. Doch vor seinen Kommilitonen ließen sich die Anwendungen nicht verbergen. Auch wenn er versuchte, die Wirksamkeit zu erklären, so erntete er eher Spott. Der Spitzname „Dr. Hydrophilos“ begleitete ihn durch seine Studienzeit.